Wer haftet auf der Baustelle?
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Nora Moor* aus Zürich hat sich in das Tessin verliebt. Sie beschliesst, ihren festen Wohnsitz nach Morcote, ein wunderschönes Örtchen in der Nähe von Lugano, zu verlegen, und kauft sich hierfür Land. Schnell knüpft sie den Kontakt zu einer lokalen Architektin, und gemeinsam schliessen die Parteien einen Planervertrag ab für den Neubau eines grossen Wohnhauses im Tessiner Baustil. Die Architektin, Jeanette Grob*, übernimmt die Bauleitung und koordiniert die Werkverträge mit den am Bau beteiligten Unternehmen.
Die Bauarbeiten sind im Gange und der Zeitplan wird eingehalten. Die Werkabnahme ist für den 1. April 2023 vorgesehen. Am 1. März 2023 ruft die Kundin aus Zürich Jeanette Grob an. Sie wolle ihre geliebte Kunst bereits Anfang März nach Morcote verlegen. Um ihre kostbare Kunst zu beschützen, würde sie ihren Freund, Paul Biondi*, nach Morcote schicken, der bereits im noch nicht fertiggestellten Haus wohnen sollte.
Die Architektin ruft den Rechtsdienst des SIA an. Sie ist besorgt. Eigentlich ist die Baustelle zum jetzigen Zeitpunkt gefährlich und das Haus noch nicht bewohnbar. Auch wenn gewisse Räume fast abnahmefähig sind, ist etwa das Treppenhaus kaum begehbar. Doch die Architektin möchte die sympathische Dame aus Zürich nicht enttäuschen und fragt den SIA-Rechtsdienst nach ihren Möglichkeiten. Sie befürchtet auch, dass die Dame aus Affekt, und in diesem Sinne nicht böswillig, ohne Einverständnis der Architektin die Baustelle betritt und vor Ort übernachtet. Wer haftet in diesem Fall?
Schutz- und Fürsorgemassnahmen
Während der gesamten Bauzeit muss der Unternehmer auf dem Bauplatz alle erforderlichen Schutz- und Fürsorgemassnahmen für Personen und Sachen treffen, die sich auf der Baustelle befinden. So sind etwa diverse gesetzliche Regelungen einzuhalten, zum Beispiel die Bauarbeitenverordnung[1] oder die Verordnung über die Unfallverhütung[2]. Jeanette Grob kontrolliert als Bauleiterin die Einhaltung der Regeln, um Schäden an Personen und Eigentum zu vermeiden, und greift bei Bedarf ein, wenn sie eine Verletzung der Sicherheitsvorschriften oder eine Gefährdung feststellt.
Im Rahmen dieser Aufsichtsfunktion kann die Architektin den Wunsch von Nora Moor nach Zugang zur Baustelle prüfen. Sollte der Bauzustand keine Gefahr darstellen, kann der Zugang für Besuchende, bei Bedarf auch unter der Aufsicht von Jeanette Grob, gewährt werden. Eine individuelle Sicherheitsausrüstung muss allenfalls vorgeschrieben werden (Helmtragungspflicht etc.), um die Sicherheit auf der Baustelle zu gewährleisten. Was passiert aber, wenn die Baustelle zu gefährlich ist? Kann die Architektin der sympathischen Bauherrin tatsächlich jeglichen Zutritt verwehren?
Grundsätzlich ist Nora Moor nach Art. 667 ZGB Eigentümerin des Grundstücks und der darauf errichteten Baute. Ihr kann in diesem Sinne der Zugang zu ihrem Eigentum nicht verwehrt werden. Ist der Zugang zur Baustelle zu gefährlich, ordnet daraufhin die Bauleitung das Zutrittsverbot an. Ignoriert Nora Moor diese Anordnung, dann läuft sie Gefahr, im Schadensfall selbst für ihre Kosten aufkommen zu müssen. Eine entsprechende Versicherungsdeckung wegen eines solchen grobfahrlässigen Verhaltens dürfte nicht gegeben sein.
Die Bauleiterin als Garantin
Ist nichts anders vereinbart, so ist die Bauleiterin als Garantin für die Sicherheit von Menschen und Sachen auf der Baustelle verantwortlich. Nach SIA 102 (2020) ergreift die Architektin rechtzeitig die zumutbaren und geeigneten Massnahmen, um der Entstehung oder Vergrösserung eines Schadens entgegenzuwirken. Wurde die SIA 118 im Bauleitungsvertrag für anwendbar erklärt, so haben die Baubeteiligten bis zur Abnahme des Werkes alle vereinbarten, gesetzlich vorgeschriebenen oder durch die Übung empfohlenen Massnahmen zum Schutz von Personen und ihrer Gesundheit sowie des Eigentums des Bauherrn und Dritter zu treffen. Art. 107 SIA 118 fordert gerade bei Baustellenbesichtigungen bzw. -zulassungen eine Rücksprache bzw. Vereinbarung zwischen Bauherrschaft (oder Bauleitung) und Unternehmen, um Sicherheit für Mensch und Sache zu gewährleisten.
Jeanette Grob als Bauleiterin untersteht somit einer Sorgfalts- und Abmahnungspflicht. Ist die Baustelle zu gefährlich, um darin bereits zu wohnen oder um darin Nora Moors Kunst zu deponieren, steht sie somit in der Pflicht, ein Baustellenzutrittsverbot auszusprechen, auch gegenüber Nora Moor. Auch infolge ihrer Informationspflicht ist die Bauleiterin verpflichtet, ihre Bauherrin über alle Risiken zu informieren.
Ignoriert Nora Moor diese Anweisung und wird etwa infolge von Bauarbeiten die im Haus deponierte Kunst beschädigt, so befreit die ausdrückliche Abmahnung der Bauleiterin von ihrer Haftung. Die Verletzung der Garantenpflicht, also eine fehlende Abmahnung, zieht im Schadensfall zivilrechtliche Folgen mit sich. Wenn sich Nora Moor auf der Baustelle verletzt, könnte dies auch strafrechtlich relevant sein, sollte Jeanette Grob ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen sein. Im vorliegenden Fall ist Jeanette Grob gut beraten, die Abmahnung schriftlich zu ver- fassen, denn das ist ein wertvolles Beweis- mittel im Streitfall!
Wohnsitzanmeldung nicht vergessen
Darf der Freund Paul Biondi auf der Baustelle eigentlich wohnen? Der Bezug des neuen Zuhauses bedarf nach kantonaler Gesetzgebung einer vorgängigen Besichtigung durch die zuständige Behörde sowie einer entsprechenden Genehmigung (vgl. Art. 49 Legge edilizia cantonale). Im Übrigen fliesst aus der Informationspflicht der Architektin Jeanette Grob gegenüber Nora Moor die Obliegenheit, die Kundin auf die Folgen der Nutzung des Bauwerks ohne Wohnbewilligung aufmerksam zu machen und gegebenenfalls die zuständige Gemeinde zu benachrichtigen. <<
*Name geändert
[1] Verordnung über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Bauarbeiten (Bauarbeitenverordnung; BauAV); SR 832.311.141.
[2] Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten (Verordnung über die Unfallverhütung; VUV); SR 832.30.
Die Bauleiterin hat die Pflicht, einzuschreiten, wenn sie eine Verletzung von Sicherheits- vorschriften oder eine Gefährdung für Mensch und Sachen erkennt.