Auf Wolke neun
Durch den letzten Willen des Eigentümers eines begehrten Grundstücks im Berner Oberland fand dieses zu einer jungen Familie in der Nachbarschaft.
Cloud 9 taufte das Architekturbüro dieses Projekt am Thunersee. «Das Haus schwebt von der Erscheinung und der Lage her auf einer eigenen Wolke», begründet Architekt Mirko Briggen die Namensgebung. Das ist nachvollziehbar: Der Baukörper steht auf einem kleinen Hügel inmitten eines Einfamilienhausquartiers. Die erhöhte Position sowie die Fensterfront auf der gesamten Länge des Hauses bieten den Bewohnern freie Sicht auf den See und die Alpen am Horizont. Der Weitblick wird durch den Infinity-Pool noch stärker in Szene gesetzt, da das Wasser einerseits den Himmel spiegelt und andererseits optisch mit dem Thunersee zu verschmelzen scheint.
Wenn ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung geht
Mit dem dreieckigen Grundstück, auf dem ein altes Haus gestanden habe, hätten schon viele geliebäugelt, erzählt der Architekt. Auch die Bauherrschaft dieses Hauses bekundete ihr Interesse bereits vor 10 Jahren. Doch man wollte nicht verkaufen. «Die Mutter des Eigentümers hatte ein Atelier im Haus. Nach ihrem Tod blieb es 40 Jahre lang unbewohnt. Das sah man dem Anwesen an. Es war verwachsen, fast wie ein Wald», erzählt der Architekt. Eines Tages bekam die Bauherrschaft in spe einen Anruf: Der Eigentümer des Grundstücks sei verstorben und habe zu Lebzeiten dafür gesorgt, dass sie als Interessentin bevorzugt werden solle, wenn sie noch die Absicht habe, es zu kaufen. «Das Ehepaar hatte nicht mehr daran geglaubt, dass das Traumgrundstück zu ihm finden würde. Wir hatten in der Zwischenzeit bereits ein Haus für die junge Familie in der Nachbarschaft realisiert», fährt der Architekt fort. Als sich der Stiftungsrat des verstorbenen Eigentümers mit dem Angebot beim Ehepaar meldete, nahm es dies sehr dankbar an. Das Haus, in dem die Familie insgesamt fünf Jahre lebte, wurde verkauft.
Intensive Werkstoffrecherche
Vier Jahre beanspruchte «Cloud 9» von der Planung bis zur Fertigstellung. Die Entwurfsarbeit ging dabei leicht von der Hand. Weil die Bauherrschaft bereits das zweite Mal baute, wusste sie genau, was sie wollte und was nicht. Aufwendiger war die Auslese der Werkstoffe. «Wir reisten quer durch die Schweiz auf der Suche nach einem geeigneten Bodenbelag, bis wir schliesslich in Thun selbst fündig wurden», erinnert sich Mirko Briggen. Die Materialrecherche führte sie auch nach Norditalien, um sich dort vor Ort ein Bild von der Natursteinproduktion und der Qualität des Steins zu machen. Die Architekten arbeiteten dazu eng mit dem Innenarchitekturbüro Raumforum aus Thun zusammen. Gemeinsam mit der Bauherrschaft setzten sie sich intensiv mit der Materialisierung auseinander. «Fast ein ganzes Jahr lang haben wir uns einmal pro Woche getroffen, um Raum für Raum die Werkstoffe aufeinander abzustimmen», erzählt der Architekt. Hauptmaterialien sind durchgehend Travertinstein, Holz und Glas in unterschiedlichen Ausführungen und Farbabstufungen. Durch die Ergänzung mit Zusatzmaterialien wie Kalkputz oder Textiltapeten gab man jedem Raum eine gewisse Eigenständigkeit.
Das Ehepaar wünschte sich eine spezielle Kalkputzfassade, die je nach Lichteinfall in kühlem Grau oder warmem Braun erscheint. Aus diesem Grund kam nur die Massivbauweise infrage. Um den Grundriss im Hausinneren zu maximieren, bot es sich an, für das Erd-und das Dachgeschoss auf die einschalige Bauweise mit sogenanntem Einsteinmauerwerk zurückzugreifen. Dabei ist jeder Leichtbackstein in seinen Zwischenräumen mit Steinwolle gedämmt. Die Anschlagsteine für die zahlreichen Fenstersysteme stellten eine Herausforderung dar. «Jeder Anschlagstein musste passend gemacht werden. Der Stein hat aber seine Tücken, denn wenn er zugeschnitten wird, wird er schnell porös», erklärt der Architekt. Die massgeschneiderte Konstruktion ist schliesslich gelungen. In Kombination mit der Aussendämmung beim Untergeschoss und Dach erfüllt das Haus den Minergie-Standard. Jedoch verzichtete die Bauherrschaft auf ein Zertifikat. Zur Energieeffizienz trägt zudem die Photovoltaikanlage auf dem Dach bei.
Die Fassade ist mit demontierbaren Holzlamellen ausgeschmückt. In einer der Lamellen ist eine tragende Stahlstütze verborgen. Das Druckimprägnierverfahren macht das Holz äusserst langlebig. Dabei wird es künstlich vorgealtert, indem es gebacken, getrocknet und mit einem UV-Schutz beschichtet wird. Bei diesem letzten Schritt wurde die Farbe des Fichtenholzes beeinflusst, sodass es mit dem Parkett im Hausinneren harmoniert.
Strukturiert und stimmig
Die Form und die Grösse des Hauses waren durch die Ausrichtung der Parzelle und das gewünschte Raumprogramm schnell gegeben. So ist der rechteckige Baukörper parallel zum See positioniert. Der Architekt übernahm das Konzept des Erdgeschosses vom ersten Haus, konnte es auf diesem Grundstück jedoch grosszügiger gestalten.
Der Haupteingang befindet sich auf der Westseite. Ein zentraler Kubus strukturiert die Wohnzonen und integriert ein schmuckes Gäste-WC sowie ein ästhetisch ausgebautes Küchenreduit. Zum Entree ausgerichtet, trägt der Kubus einen grossflächigen, braun getönten Spiegel, zur Küche einen Hängeschrank. Das Besondere ist, dass einige Tablare des Schranks sowohl vom Vorratsraum als auch von der Küche aus zugänglich sind.
Das Erdgeschoss hat der Architekt mit einer Büronische neben dem Wohnzimmer und einem Atelier neben der Küche ergänzt. Beide Nebenräume sind durch eine braun getönte Glasschiebetür getrennt und bieten so Durchblick bis zum See. Andersherum blickt man in die Arbeitsräume. «Von der Küche aus sieht man die Umrisse von Gemälden, an denen die Bauherrin jeweils arbeitet. Das gibt eine ganz schöne Stimmung», sagt der Architekt. Breite Treppen führen zum Dach-und Untergeschoss. Anders als im ersten Haus sind diese nicht aufwendig inszeniert, sondern schlicht und funktional gestaltet.
Im Dachgeschoss bringt ein Dachfenster mit einer eindrücklichen Dimension von 6 × 1,5 Metern viel Tageslicht herein. Nur an dieser Stelle im Korridor und im Masterzimmer ist die Decke abgeschrägt. In den anderen drei Schlafzimmern und in den Badezimmern war die Inszenierung des Satteldachs nicht gewünscht, weshalb man den entstandenen Hohlraum als Estrich nutzen kann. Das umfangreiche Raumprogramm setzt sich im Untergeschoss fort. Dort, wo früher Oldtimer in drei separaten Garagen standen, gibt es heute eine geräumige Garage für bis zu vier Autos. Nebst dem Technik-und Pooltechnikraum ist das Untergeschoss wohnlich ausgestaltet mit rustikalem Weinkeller, gemütlichem Fernsehzimmer, Sportgeräteraum und Waschküche mit Fernseher.
Mit mediterranem Flair
Das Grundstück bot Gestaltungsspielraum für den Garten. Wie das erste Haus der Familie sollte auch das zweite einen Pool auf Niveau des Erdgeschosses haben. Dieser ist mit einer Gegenstromanlage ausgestattet. Zur Entspannung wünschte sich der Bauherr einen bodenbündigen Whirlpool. Für das Ambiente sorgt als dritte Wasserstelle der Brunnen beim Sitzplatz. Dieser befindet sich auf der Grundstücksspitze, die nach Südwesten ausgerichtet ist und direkt über der Garage liegt. Der Sitzplatz mit Outdoorküche ist mit einer grosszügigen Pergola überdacht. Die Rotationslamellen bieten guten Sonnenschutz und erzeugen in halb geöffnetem Zustand ein spannendes Lichtspiel, was gut zum mediterranen Flair des Gartens passt, zu dem die Olivenbäume beitragen, welche die Bauherrschaft vom Garten ihres ersten Hauses umpflanzen liess. Bei dieser atmosphärischen Stimmung mit Weitblick und Natürlichkeit kann sich die Familie effektiv wie auf Wolke 9 fühlen.